Angedacht: „Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere!“
Dass sie an Sonntagen natürlich immer offen war und du konntest zu Gottesdiensten mit Orgelklang und Singen von Liedern gehen, das war normal und wir wussten es wohl gar nicht so recht zu schätzen. Aber dann musste die Kirche wegen Corona geschlossen werden – schade! Und zur Zeit sind nur noch „Kleine Andachten“ oder Gottesdienste im Freien möglich. Die Kirchenvorsteherinnen und Kirchenvorsteher haben in einer Sitzung darüber geredet und den Beschluss gefasst: „Dann werden wir eben die Kirche über die Woche offen lassen“. Wenn nur Einzelne zu einem stillen Gebet eintreten, dann ist das nicht verboten. Ein Gemeindeglied sagte, als dieser Beschluss verkündet wurde: „Da muss erst Corona kommen, dass das möglich ist!“
Seitdem steht ein großes Schild „Offene Kirche“ vor dem Eingang zu den Pfarrhäusern zu. „Ich sehe immer wieder Leute eintreten“, sagt ein Beobachter von gegenüber. Das Sprichwort bewahrheitet sich mal wieder: „Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere!“ Die Tür der Martinskirche ist also über den Tag offen.
Heute bist du auf dem Wochenmarkt gewesen und auf dem Heimweg an der Kirche vorbei gegangen. Du hast das Schild gesehen und hast gesagt: „Da gehe ich doch mal rein.“
Du bist kein Tourist, der nur mal gucken will. Du kennst deine Kirche, hier bist du konfirmiert worden, hierher bis du im letzten Jahr am Tag des Offenen Denkmals hergekommen und hast Dir bei einer Führung alles noch mal genau erklären lassen und hast Einzelheiten entdeckt, die du überhaupt nicht kanntest.
Du öffnest die große Tür und gehst durch die Glastür. Der große Raum ist leer. Aber du spürst: Etwas von dem, was die Gemeinde hier seit über 100 Jahren gebet und gesungen hat, ist hängen geblieben. Du setzt dich auf die erste Bank. Da hast du noch nie gesessen. Wenn du mal zum Gottesdienst gegangen bist, hast du dir einen Platz in einer Bank weiter hinten gesucht. Dass auf einer anderen Bank noch ein Besucher sitzt, hast du nicht gesehen. Du schließt die Augen und bist ganz in Gedanken. Du denkst an dein Leben und vieles, was du dir die ganze Zeit gewünscht hast, kommt dir hier in der Kirche so unwichtig vor. Aber dann fallen dir auch Momente ein, wo dir was gelungen ist oder wo du was erlebt hast, wofür du dich gar nicht gemüht hattest und doch war plötzlich alles gut. Und Bilder von Menschen treten ganz lebendig vor deine Augen, an die du schon lange nicht mehr gedacht hast. „Es sind doch viele, denen ich was zu verdanken habe“, sagst du zu dir selbst. Unwillkürlich faltest du die Hände und sagst: „Großer Gott, ich danke dir für all die Menschen die mir gut sind. Ich danke dir für all die guten Erlebnisse in meinem Leben.“ Als du hörst, wie sich die Tür bewegt, schaust du auf. Der andere Besucher wollte dich nicht stören und ist gegangen. Du schaust nach vorne und siehst den gekreuzigten Christus. Da fallen dir die Fehler deines Lebens ein, wo dir was schief gegangen ist. Du denkst an die Gelegenheiten, wo du es nicht über dich gebracht hast, „Entschuldigung!“ zu sagen, oder wo du hättest zugreifen und helfen sollen, aber du hattest keine Zeit, oder an Gelegenheiten, wo du hättest „Danke!“ sagen sollen. Gelegentlich stehen solche verpassten Gelegenheiten deutlich vor deinen Augen und sie plagen dich: „Manches hätte ich doch besser machen können!“ Aber hier ist das alles keine Last, die dich erdrückt, es ist dir, als ob der Christus vom Kreuz direkt zu dir spricht: „Auch diese Lasten habe ich auf mich genommen. Ich will doch, dass dir das nicht ewig nachhängt und dich herunterzieht. Ich will doch, dass dein Leben vorwärts geht und dass du immer gute Ziele anstreben kannst!“
Du wachst aus deinen Gedanken auf, schaust nach vorne und siehst die Wanne, in der einige brennende Kerzen im Sand stecken. Du hast so etwas, wenn du im Urlaub warst, schon in vielen Kirchen gesehen und weißt gleich, was da gemeint ist und du lässt dich einladen. Da kann ich ein Gebet für meine Familie sprechen. Du zündest eine Kerze an und sagst: „Großer Gott, ich danke dir, dass ich eine liebe Frau und nette Kinder habe.“ Und du zählst alle ihre Namen auf und betest: „Beschütze uns vor Unfall und Gefahr!“ Dann denkst du an einen Bekannten, mit dem du dich gekracht hast und sagst: „Himmlischer Vater, beschütze auch den. Wir waren doch beide unzufrieden, dass das gute Verhältnis einen Sprung bekommen hatte. Ich werde noch mal mit ihm reden.“ Und dann fällt dir noch ein, dass du eine berufliche Entscheidung immer vor dir her geschoben hast und sagst: „Gute Gott, gib mir den Mut, mal endlich eine richtig Entscheidung zu fällen.“ Und wie du laut „Amen“ sagst und hörst deine eigene Stimme, schaust du dich um. Aber du bist allein in der Kirche und nur Gott hat dich gehört.
Dein Auge fällt auf das Gästebuch, das auf dem Taufstein liegt. Du willst nichts hineinschreiben, aber du blätterst es durch. Einer schrieb: „Ihr habt eine wunderschöne offenen Kirche. Obwohl ich kein Kirchgänger bin, merkt/spürt man sofort eine gewisse Energie. Vielen Dank.“ Ein Ehepaar schrieb: „Heute vor 25 Jahren wurden wir hier getraut. Danke, Gott, für diese Jahre! K… und M….“ Dann wird es international: „Gracias por todo que sufrido señor! …“ Ein andere Besucher schrieb: „Zur Erinnerung an die Kindheit mit Kirchenbesuch bei Pfarrer Neff. Klaus und Ulrike.“ Du sagst dir: ich sollte ja auch was schreiben, nein, ich habe doch eben schon alles gesagt. Und du trittst wieder auf die Straße. Was drinnen war, bleibt zurück. Aber die guten Gefühle bleiben dir. Du schaust dich um und schaust nach oben. Aber du kannst Deinen Schutzengel nicht sehen, der dir freundlich zuwinkt.
„Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere!“ Das kommt auch in der Bibel vor. Als die Menschen aus dem Paradies vertrieben wurden, schloss sich eine Tür und der Engel mit dem Flammenschwert stand davor, sie zu bewachen. Aber seit an Weihnachten das Christkind geboren wurde und die Engel sangen: „Euch ist heute der Heiland geboren“, öffnet sich die Tür zum Himmel wieder. In einem Weihnachtslied, das vielen vertraut ist, singen wir „Heut schleußt Er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis!“ Können wir wirklich etwas vom Himmel sehen, spüren und in unserem Leben Wirklichkeit werden lassen? Wir brauchen etwas vom Glanz und vom Klang der Himmels, der durch diesen Türspalt in unsere dunkle Welt hinein scheint, hinein klingt. Wir sehen in dieser Coronazeit so viele geschlossene Türen und das tut weh. Deshalb ist die Botschaft von Weihnachen besonders wichtig: An Weihnachten hat Gott das Himmelstor wieder aufgemacht und hilft uns, in unserer Welt Türen zu öffnen, wenn andere sich geschlossen haben.
Dieter Borck, Pfr.i.R.