Ulrich Zwingli
Gerade mal knapp zwei Monate jünger als Martin Luther wirkte Ulrich Zwingli, geboren am 1.1.1484, zur selben Zeit reformatorisch in der Schweiz. Aus einem politischen Elternhaus kommend, der Vater amtierte als gewählter Landammann (Gemeindevorsteher), war Ulrich Zwingli fast darauf geprägt, sich für das Gemeinwohl zu engagieren. Die Eltern hatten für ihn einen kirchlichen Lebensweg vorgesehen und ermöglichten nach dem Besuch der Lateinschule weitere Ausbildungen in Bern und an der Universität in Wien. 1502 immatrikulierte sich Zwingli an der Universität Basel und widmete sich dem Studium der sieben freien Künste, eine Voraussetzung zur Zulassung zum Studium von Theologie, Recht und Medizin, das er vier Jahre später als Magister abschloss. Danach studierte er noch ein Semester Theologie.
Bereits im Sommer 1506 wählten ihn die Bürger von Glarus für ihre Pfarrstelle aus. Dort wirkte er als volksnaher Priester, hielt Messopfergottesdienste, tröstete als Seelsorger, nahm die Beichte ab, trug bei Fronleichnamsprozessionen die Monstranz, leitete Wetterprozessionen, betete das Ave Maria mit dem Rosenkranz. Der Umgang mit Reliquien und das Ablasswesen waren dem jungen Priester und Kirchenherrn von Glarus vertraut und selbstverständlich.
Einen erheblichen Teil seiner Einkünfte verwendete er für Bücher. Bei seinem Tod umfasste seine Bibliothek circa 300 theologische und humanistische Bücher, wobei er sich zunehmend den antiken Schriften zuwandte. So stand er mit dem lange in Basel lebenden Niederländer Erasmus von Rotterdam in regem Kontakt. Durch diesen angeregt, begann er die alten biblischen Sprachen zu lernen, zuerst Griechisch, später Hebräisch. Erasmus und Zwingli versuchten, mit humanistischem Gedankengut die Bibel auszulegen und die durch liturgische und religiöse Traditionen verdeckten Aussagen neu zu deuten.
Prägend war wohl auch in dieser Zeit seine Teilnahme an Feldzügen in Italien als Feldgeistlicher, für die sich die Eidgenossen als Söldner (eine wichtige Einnahmequelle für die armen Gemeinden) verpflichteten. Bis heute wacht die Schweizer Garde im Vatikan, bekleidet mit über Jahrhunderte kaum veränderten Gewändern, die von Michelangelo entworfen sein sollen.
Nach circa zehn Jahren verließ Zwingli seine Pfarrstelle in Glarus, wirkte vorübergehend in Einsiedeln und wurde 1518 auf die Leutpriesterstelle des Großmünsters in Zürich gewählt. Ende dieses Jahres hörte er erstmals von Luther und sah in ihm einen mutigen Kämpfer für einen gemeinsamen reformatorischen Weg. Wie bei Luther, war Zwinglis Denken von den Paulusbriefen geprägt. Gleichzeitig übernahm das Johannesevangelium eine Schlüsselrolle in Zwinglis Verständnis und seiner Auslegung des Evangeliums. Während Luther die ‚Werkgerechtigkeit‘ anhand der Bibel neu definierte und sein ‚allein durch Gnade‘ herausarbeitete, waren Zwinglis Auslegungen mehr humanistisch orientiert. So predigte er eher weltlich gegen Phänomene wie Egoismus, religiöse Heuchelei und Versklavung, Aberglaube und Werkgerechtigkeit. Er strebte eine Befreiung des Menschen durch das Evangelium an, eine neue Ausrichtung auf Gott: Glaube als Ort von Freiheit, Ruhe und Gerechtigkeit.
Im September 1518 erkrankte Zwingli an der Pest. Erst gegen Ende des Jahres besserte sich sein Zustand wieder. Aus dieser existenziellen Grenzerfahrung heraus betrachtete er sich als ‚Gefäß Gottes‘ und versprach gegen allen Widerstand, Gottes Lob und Ehre zu verkünden.
Das von Zwingli unterstützte Brechen mit altenhergebrachten kirchlichen Traditionen brachte in Zürich und im unmittelbaren Umfeld langsam die Reformation in Gang, worauf es vereinzelt zu Widerstand in den Gemeinden kam. Es gab zunehmend Anfeindungen. Nach und nach verlor er mit seiner neuen Ausrichtung der Theologie die Unterstützung seiner humanistischen Freunde. Nachdem 1521 Kaiser Karl V. die Reichsacht über Luther verhängte und Papst Leo X. Luther exkommunizierte, spitzte sich die Lage dann für Zwingli nochmals zu. Auch Erasmus von Rotterdam begann sich zu distanzieren.
Mit dem Bruch kirchlicher Traditionen, seiner öffentlich geäußerten Überzeugung, dass der Gläubige die Freiheit hat, den ‚leichten Weg zur Gnade Gottes durch Christus‘ zu gehen, im Vertrauen auf Christus, und damit frei von allen zweifelhaften irdischen Heilswegen, Heilsmitteln und Heilsmittlern, ist er sich bewusst, dass ihn dies sein Leben kosten kann.
Richtig zum Streit kam es, als Zwingli das traditionelle Fasten der Freiheit eines jeden Gläubigen freistellte. Fasten oder nicht fasten, beides kann Gottesdienst sein, nichts davon ist heilsnotwendig. Für ihn sind das irdische Ausgangspunkte: Nur wer an Gott glaubt, den Schöpfer, und an Christus, durch den er uns zu sich einlädt, der wird entlastet vom Zwang der Selbsterlösung und befreit zu einem Leben in Dankbarkeit. Für die römische Kirche ist Zwingli zum Ketzer geworden.
Eine bischöfliche Delegation wurde 1522 beim Züricher Rat vorstellig und verlangte gegenüber Zwingli ein hartes Einschreiten. Der Rat ermöglichte Zwingli eine persönliche Rechtfertigung. Anfang Juli verfasste er mit Mitstreitern eine Bittschrift an den Bischof und verlangte neben der Freiheit der Verkündigung die Aufhebung des Zölibatzwangs. Zu dieser Zeit lebte er mit der Witwe Anna Reinhard in ‚geheimer Ehe‘ zusammen, die er 1524 öffentlich machte. Anna Reinhard, die drei Kinder mit in die Ehe brachte, hatte mit Ulrich Zwingli noch weitere vier gemeinsame Kinder.
Innerhalb der Stadtmauern von Zürich wurde Zwingli bald der ‚lutherischen‘ Häresie bezichtigt. Es wird von Entführungsversuchen berichtet und es kam zu nächtlichen Tumulten mit Steinwürfen vor seiner Wohnung sowie zahlreichen Drohungen, Morddrohungen eingeschlossen. Der Züricher Rat ordnete Bewachungsmaßnahmen zur Sicherheit Zwinglis an.
Zwingli war in der Züricher Regierung als theologischer Berater tätig, der Anstöße gab, Reformkonzepte und Reformvorschläge erarbeitete, aber auch biblische Begründungen lieferte. Er wurde wohl angehört aber selten entschieden die Räte nach seinem Sinn. Der überwiegende Teil der Züricher Räte stand den Reformen Zwinglis jedoch wohlwollend gegenüber. Man entschied, sich mit Veränderungen Zeit zu lassen. So wurde im Juni 1524 auf einen Ratsbeschluss hin mit der Entfernung der zum Zweck religiöser Verehrung aufgestellten Bilder begonnen. Jede einzelne Gemeinde sollte mit gewissen Einschränkungen selber entscheiden können. Unter Beisein einer Ratsdelegation wurden die Bilder von fachkundigen Handwerkern abgenommen und den Eigentümern zurückgegeben. Ein Bildersturm fand in Zürich nicht statt. Die große Pfingstprozession wurde abgesagt und das gesparte Geld an die Armenversorgung überwiesen.
Ein weiterer großer Reformschritt war die Auflösung von Klöstern. Zum Austritt gezwungen wurde niemand, vielmehr erlaubte man den Nonnen und Mönchen ihren Lebensabend im Kloster zu verbringen. Nicht mehr möglich waren Neueintritte. Die mit der Neuregelung gesparten Gelder sollten primär für Bibelstudien verwendet werden und für Stipendien mittelloser Studenten. Es wurden gute Lehrer angestellt. Zürich legte Wert auf gute Bildung. Bedürftigen und Kranken sollten durch eine verlässliche soziale Fürsorgekommission nachhaltig geholfen werden. Auch ordnete man das Sitten- und Eherecht neu.
Diese Reformen, die sich hier so vernünftig lesen, brachten sehr viel Unruhe mit sich. Die sich als Eidgenossen verstehenden Schweizer, solidarisch füreinander einstehend, regelten solche Änderungen durch Mehrheitsbeschlüsse und wie in den deutschen Landen entschieden sich manche Kantone dafür, altgläubig zu bleiben. Es kam zu militärischen Auseinandersetzungen, Brüderkriege, da der eidgenössische Schwur für gegenseitigen Schutz geleistet und in regelmäßigem Abstand immer wieder erneuert wurde. Sie schwören dabei füreinander da zu sein, nun stritten sie gegeneinander.
Für Zwingli waren politische Entscheidungen immer an theologische Vorgaben gebunden. Sein Schwur entband ihn jedoch nicht vom Kriegsdienst als Feldgeistlicher. So kam es im Juni 1529 zum ersten Kappeler Krieg, der jedoch ohne Blutvergießen beigelegt werden konnte
Im Oktober des gleichen Jahres lud Landgraf Philipp von Hessen zum Marburger Religionsgespräch ein. Philipp war an einem Schutzbündnis der oberdeutsch-schweizerischen und Wittenberger Reformatoren interessiert. Zwingli machte sich mit Begleitern auf die gefährliche Reise nach Marburg und diskutierte dort unter der persönlichen Leitung des Landgrafen mit Martin Luther. Es wurden Thesen formuliert die von Luther und Zwingli mit weiteren Reformatoren, darunter Melanchton, ausgearbeitet wurden, wobei Luther und Zwingli versuchten, die jeweilige Position des anderen zu verstehen und in übereinstimmende Worte zu fassen. Einzig beim Wortlaut des Abendmahls konnte kein Konsens erzielt werden. Luther hatte das Privileg, als erster zu reden und ließ keinen Zweifel an seiner Unbeugsamkeit. Er betonte, dass einzig und allein die Einsetzungsworte des Abendmahls ‚das ist mein Leib‘, ‚das ist mein Blut‘, Verwendung finden können, und unterstrich diese Aussage noch damit, dass er, als er sich wieder an seinem Platz niederließ, mit Kreide ‚das ist mein Leib‘ auf die Tischplatte vor sich schrieb und das Tischtuch darüber schob. Sein ‚ist‘ war während des ganzen Disputs präsent.
Zwingli seinerseits argumentierte vor allem mit der Bibel im Gesamtzusammenhang. Als humanistischer Bibelforscher waren ihm Diskussionen schon vom eigenen Lager her vertraut. Nichts wäre ihm lieber gewesen als eine ‚brüderliche‘ Verbindung mit Luther, über den er sich trotz aller Kritik stets mit Hochachtung geäußert hat. Zwingli hielt gegen Luther daran fest, dass Jesu Worte: „Dies ist mein Leib“, nicht wörtlich-substanziell, sondern bildlich zu verstehen seien, im Sinne von „dies bedeutet oder symbolisiert mein Leib“.
Die teilnehmenden Reformatoren des Marburger Religionsgesprächs, wovon hier nur Zwingli und Luther genannt werden, trennten sich und die Frage eines einheitlichen Abendmahlsverständnisses ist bis heute ungeklärt.
Die Reformation in Zürich brachte nach 1529 weitere Spannungen. Komplizierte Verhandlungen und Missverständnisse mit den unter sich gespaltenen Verbündeten in Bern waren die Folge und schließlich mitverantwortlich dafür, dass am 11. Oktober 1531 eine innerschweizerische Übermacht einem schlecht vorbereiteten und in aller Eile zusammengezogenen Züricher Heer wiederum in Kappeln gegenüberstand. Bei dieser Schlacht verlor Zwingli mit etwa 400 weiteren Zürichern sein Leben. Sein Leib wurde gevierteilt und verbrannt und damit das Ketzergericht auf dem Feld vollzogen.
Dies ist eine kurze Zusammenfassung eines Lebens aus einer fernen Zeit, mit uns gänzlich fremden Lebensbedingungen. Ehrfurcht und Respekt davor, mit welchem Mut und Gottvertrauen Zwingli seine Glaubensüberzeugung durchgesetzt hat. Ein Zeitfenster einer unruhigen Welt, die reif dafür war, theologischen Deutungen neue Wege zu öffnen, Fragen zuzulassen und Antworten zu finden. Ein Nachdenken darüber, wohin Glaubenskriege führen können, befördert uns brutal in die Gegenwart.
Ute Löb