Luther
In der Nacht vom 22. Juni 1997 feiert ein junger Mann, nennen wir ihn Ferdinand, mit seinen Freunden auf einem Dorffest im ländlichen Raum, der der Odenwald sein könnte. Es wird gelacht, es wird gesungen, es wird getrunken. In den frühen Morgenstunden kann Ferdinand kaum mehr gerade gehen, trotzdem steigt er in sein Auto und fährt die wenigen Kilometer zum Nachbardorf, wo er wohnt. Auf dem Heimweg bemerkt er den Zebrastreifen nicht, über den ein Junge auf dem Weg zur Schule ist. Er überfährt den Jungen, der noch am Unfallort stirbt.
Die Beerdigung des Knaben verläuft mit großem Presserummel, führende Politiker sind anwesend, der Dekan hält die Predigt, alle nehmen die Eltern in den Arm und begleiten sie über die nächsten Jahre der Wut und Trauer um ihren Sohn. Der Unglücksfahrer wird verurteilt, fahrlässige Tötung, er kommt einige Jahre ins Gefängnis, viel zu wenig, wie die Presse ruft.
Als er aus dem Gefängnis herauskommt, ist es ruhig um ihn geworden. Langsam bekommt er sein Leben in den Griff, erlernt einen Beruf, heiratet, bekommt Kinder. Und nimmt behutsam Kontakt auf mit der Mutter des Jungen, den er überfahren hat. Nach einigen Monaten treffen sie sich. Sie hat ihn zu sich nach Hause eingeladen, zeigt ihm das Zimmer, das das Kinderzimmer war, zeigt ihm Bilder des Jungen. Er weint. Er bereut. Dann passiert etwas Wunderbares: Sie steht auf, nimmt ihn in den Arm und vergibt ihm. Er ist perplex. Später erzählt er, dass dieser Moment der heiligste seines Lebens war, dass Gott ihm eine Tür in den Himmel geöffnet hat.
Aber er selbst kann durch diese Tür nicht gehen. Nach ein paar Monaten stellt er überrascht fest, dass die Schuldgefühle zurückkommen. Zuerst lächelt er darüber, denn das kann ja nicht sein, ihm wurde doch vergeben. Aber die Schuldgefühle nehmen zu, bis sie genauso stark sind wie zuvor.
Das ist alles viele Jahre her. Heute ist Ferdinand ergraut, obwohl er noch gar nicht so alt ist. Er geht gebeugt, von einem unsichtbaren und eigentlich ja auch nicht existierenden Kreuz heruntergedrückt. Seine Schuldfühle: Immer noch da. „Vielleicht“, sagt er, „wäre es mir leichter gefallen, wenn sie mich nicht umarmt, sondern mich geschlagen hätte. Oder wenn ich zu Fuß über die Alpen gelaufen wäre. Dann könnte ich die Finger an meine Narben legen und sagen: Ich habe dafür gebüßt“.
Rom, im Jahr 1511: Nach vielen Monaten der beschwerlichen Anreise erreicht Martin Luther mit seinen Mitreisenden endlich das Ziel seiner Pilgerfahrt. Als Mönch wohnt er im Kloster seines Ordens, das es heute noch gibt. Er liest die Messe an Altären, die heute hinter vorgehaltener Hand respektvoll „Martinsaltäre“ genannt werden. Er betet, beichtet, empfängt die Eucharistie, also das Heilige Abendmahl. Und er schaut sich um. Überall sieht er, wie unheilig die heilige Stadt ist: Armut, Elend, Dreck, dazu Prostitution und Rotlichtmilieus, extra für Geistliche. Er ist entsetzt. Aber er nutzt dennoch die ganze Bandbreite geistlicher Angebote, die Rom für Pilger wie ihn zur Verfügung stellt. Er kauft Ablassbriefe und rutscht die „Scala Santa“, die Heilige Stiege, hinauf, auf jeder Stufe innehaltend und das Vaterunser sprechend. Als er oben angekommen ist, empfängt er einen Zettel, auf dem ihm die Vergebung seiner Sünden bescheinigt wird. Er schaut sich den Zettel an und fragt sich: „Wer weiß, ob´s wahr ist“.
Deutschland, im Jahr 2017: Wir feiern das Lutherjahr und erinnern uns an einen Mann, der unsere Glaubenswelt und unser Deutschland maßgeblich verändert hat. Wir denken an einen Mann, der zum ersten Mal etwas ausgesprochen hat, was wir heute als ganz normal empfinden. „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt“ – so ein Quatsch! „Der Papst unfehlbar“ – so ein Quatsch! „Ablassbriefe“ – so ein Quatsch! Und natürlich deuten wir alle Luthers Worte „Wer weiß, ob´s wahr ist“, als: „Das ist doch alles Quatsch!“
Aber war Luther wirklich der, für den wir ihn halten? Vielleicht wird niemand mehr als Luther von allen Gruppierungen für sich beansprucht: Die Bauern stürmen schon zu Luthers Lebzeiten die katholischen Kirchen und reißen alle Heiligenbilder und Verzierungen aus. Die Arbeiterklasse erfreut sich in der Zeit der kommunistischen Bewegung einige Jahrhunderte später an seinen derben, rustikalen Tischreden. Die Theologen und hemdsärmeligen Nickelbrillenträger genießen mit spitzen Mündern seine lehrreichen Schriften wie Austern. Die Verleger und Literaten wollen auch wie er den Leuten „auf´s Maul schauen“. Sogar Atheisten und Menschen, die mit Kirche nichts zu tun haben, lernen von Luther, sich gegen das Regime und die Mächtigen aufzulehnen und nur seinem Gewissen („Hier stehe ich, ich kann nicht anders“) zu folgen. Und in der Tat markiert die Reformation in den meisten Geschichtsbüchern das Ende des düsteren Mittelalters und den Beginn der so genannten „Neuzeit“, des Humanismus und die Vorwegnahme der „Aufklärung“ einige Jahrzehnte später.
So weit, so gut. Aber was, wenn die Reformation ganz anders gemeint war? Martin Luther wollte keine zweite Kirche, keine Evangelischen (=„Menschen, die vom Evangelium, also der Bibel, her denken“) und keine Katholiken (=„Anhänger der ursprünglichen, allgemeinen Kirche“). Luther wollte eine geeinte Kirche. Und wenn die Hitzköpfe Luther und Leo X. nicht so stolze Männer gewesen wären, die kompromisslos keinen Deut von ihrer Meinung abweichen wollten – wer weiß , vielleicht würde die kirchliche Landschaft 500 Jahre später nicht von der Kirchenspaltung geprägt sein. Vielleicht könnte Luther heute im ökumenischen Streit viel stärker vermitteln als er damals spalten konnte.
Denn wenn ich mir den jungen Mann vorstelle, der mit redlichen geistlichen Absichten Rom besucht hat und die „Heilige Stiege“ hinaufgerutscht ist, habe ich ein ganz anderes Bild von ihm. Kein vorlauter, rustikaler Volksprediger, der mit donnernder Stimme von der Kanzel rumpelt. Auch kein spitzfindiger Theologe mit seinem Wunsch, „ad fontes“, also an die Quellen, die Heilige Schrift, zurückzukehren und dem ganzen Pomp und affektierten Theater der damaligen römisch-katholischen Kirche die deutsche Stirn zu bieten. Und ich sehe da auch noch nicht den Mann, von dem heute gesagt wird, er habe sich gegen das Regime und die Mächtigen aufgelehnt und womöglich mit roter Fahne mit seiner Kirchenkritik einen theologischen und gesellschaftlichen Paradigmenwechsel herbeigeführt.
Was ich sehe, ist einen jungen Mann in einfacher Mönchskleidung. Fromm, geistlich, (noch) demütig und: Zutiefst gläubig. Und ehrfürchtiger vor dem Allerheiligsten als die Katholiken, die er langsam nicht mehr versteht. Ein Mann, der Tag und Nacht vor Gott kniet. Der sich bis zu seinem Lebensende mit den Fingern der rechten Hand auf Stirn und Brust bekreuzigt. Und der sich immer wieder fragt: „Wer weiß, ob´s nicht doch wahr ist“.
Deshalb nimmt er auch Abstand von den Bauernaufständen, die er verurteilt. Er trifft sich nicht so gerne mit den oberdeutschen Reformatoren, die auf die Abspaltung von der katholischen Kirche hinwirken. Er trifft sich lieber in kirchenhistorischen Hinterstübchen mit katholischen Theologen, um mit ihnen zu diskutieren. Er kann es einfach nicht glauben, dass die Katholiken nicht mehr so gläubig sind wie er.
Und deshalb ist Luther für mich ein Geistlicher. Einer, der glaubt, nicht einer, der gegen Glauben ist. In der Popularisierung des reformatorischen Anliegens wird oft vergessen, dass Luther sich bis zu seinem Lebensende als katholisch verstanden hat.
Und Luther war weiß Gott nicht gegen Bußhandlung. Wenn eingangs erwähnter Ferdinand bei Luther gebeichtet hätte, hätte er ihm womöglich geraten, sich mit ein paar Vaterunser und , ja, vielleicht mit einem Emporrutschen der „Heiligen Stiege“ Gewissenserleichterung zu erlangen. Denn für Luther war klar: Die Versöhnung mit Gott, die Vergebung, kann nicht von uns durch den Kauf von Ablassbriefen oder etwaiger werkgerechter Taten herbeigeführt werden. Dass Gott uns vergibt, geschieht durch die Gnade Gottes, auf die wir kein Recht haben und die wir uns nicht erkaufen, ererben oder erschleichen können. Aber die Versöhnung spüren und am Leib „entzünden“, war für Luther bis zu seinem Lebensende eine hilfreiche Funktion von Bußhandlungen.
Deshalb war ihm auch das würdige Feiern des Abendmahles so wichtig. Denn nicht durch das Feiern des Abendmahles erlangen die Menschen die Vergebung, das vollbringt allein die Gnade Gottes. Aber das Feiern und die konkrete, leibliche und sinnliche Erfahrung des Brotes und des Weines lassen den Menschen eben diesen wunderbaren Vorgang der Vergebung auch körperlich erfahren. So „entzündet“ sich die Vergebung im Abendmahl, so wie sie sich in der Bußhandlung „entzündet“. „Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt“ – vielleicht hätte diesen Satz Martin Luther umformulieren können zu: „Die Seele aus Gnade in den Himmel springt. Aus Dank dein Geld im Kasten klingt.“
Ich glaube, dass die Vergebung uns bisweilen mehr zumutet als wir denken. Dass die Vergebung bisweilen bitterer schmeckt als wir es zunächst vermuten. Für oben erwähnten Ferdinand war das so: Die Vergebung konnte er kaum akzeptieren, er konnte sich selbst nicht richtig verzeihen, sich selbst nicht als angenommen annehmen. Und wenn wir etwas von Luther lernen können, dann ist das: Als gläubiger Mensch etwas wagen, von dem wir spüren oder ahnen, dass da ja vielleicht doch etwas Wahres dran sein mag. Vielleicht hätte Ferdinand ja doch auch mal die „Heilige Stiege“ emporkraxeln sollen. Denn: Wer weiß, ob´s nicht vielleicht doch wahr ist?
Es grüßt Sie,
Ihr Pfarrer Bahre