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Erinnern, und nie vergessen!

Am 20. und am 24. März 1942 wurden mehr als 1000 Menschen aus dem südhessischen Raum von den Nationalsozialisten in die Konzentrationslager deportiert. Anlässlich des 80. Jahrestags dieser Deportationen fanden in allen südhessischen Dekanaten Gedenkgottesdienste statt - auch hier in Beerfelden.

Im Gottesdienst wurde der 9 Menschen gedacht, die im März 1942 aus Beerfelden in den Tod deportiert wurden. Dort, wo deren Wohnhaus einst stand, wurden nach dem Gottesdienst Kerzen entzündet und ihre Namen verlesen. Teilgenommen haben auch Bürgermeister Christian Kehrer, sowie Ortsvorsteher Rico Scheuermann. Große Freude hat es mir gemacht als Dekanatsreferentin am Gottesdienst teilnehmen zu dürfen. Damit wir uns stets erinnern und nie vergessen!

Zusammen mit den Gottesdienstbesucher:innen habe ich mir vorzustellen versucht, wie diese Deportation für diese Menschen gewesen sein muss. Nach der Wannsee-Konferenz im Januar 1942 wird die Vernichtung des gesamten jüdischen Volkes beschlossen. Im März 1942 werden im südhessischen Raum alle Jüdinnen und Juden, sowie Sinti und Roma aus ihren Wohnungen und Häusern gezwungen und in die Konzentrationslager im Osten deportiert. Für die meisten bedeutete das den sicheren und qualvollen Tod. Als Historikerin bin ich geschult darin, Erlasse, Zahlen und Fakten zu interpretieren. Oft klingen diese kühl und fremd. 1000 Leute aus Südhessen deportiert, im März 1942 abgeholt, Habseligkeiten sollen zurückgelassen werden, 9 Menschen aus Beerfelden, darunter 2 Kinder. Nüchtern und kalt wird im NS-Beamtendeutsch über das Schicksal dieser Menschen entschieden. Geschichte klingt für mich dann immer so als ginge sie mich nichts an, als hätte die Geschichte nichts mit mir und meinem Leben zu tun. Mir aber ist wichtig: hinter diesen Zahlen stehen die Geschichte(n) von Menschen, Menschen, die Namen hatten, die hier in unserer Mitte, in unserem Ort gelebt haben.

Führen wir uns das einmal vor Augen: Aus dem Nichts, stehen da Beamte des NS-Regimes vor der Tür und verkünden, dass Sie innerhalb von 3 Stunden ihre Wohnung, ihre Habseligkeiten – quasi ihr gesamtes Leben zu verlassen haben. Nur sehr Weniges dürfen Sie mitnehmen, all ihr Erspartes, ihre Wertsachen fallen in die Hände der Nazis und sie selbst müssen sich in aller Öffentlichkeit ein Schild mit Kennnummer umhängen. Von einem Moment auf den anderen endet ihr gewohntes Leben und sie finden sich in einem Deportationszug ins Ungewisse wieder. Vielleicht haben Sie kurz vorher noch Ihre Kinder zur Schule gebracht, sind durch die Wälder Beerfeldens spaziert, haben mit Freunden und Nachbarn zusammengesessen. All das endet abrupt und endgültig. Von jetzt auf gleich finden Sie sich in einem Deportationszug in den nahezu sicheren Tod wieder. Und diese Menschen waren eben nicht nur Nummern und Zahlen in NS-Listen, sondern echte Menschen. Sie waren Nachbarn, manchmal vielleicht sogar Freunde. Sie sind Teil unserer Gemeinschaft gewesen.

Uns das immer wieder in Erinnerung zu rufen, ist der Widerstand, den wir gegen das NS-Regime und gegen jede menschenverachtende Ideologie führen können. Denn worum es den Nationalsozialisten in ihren Erlassen und ihrer Ausgrenzungspolitik geht, ist Juden und Jüdinnen ihre Geschichte und ihre Namen zu nehmen. Die Auslöschung eines Volkes soll uns deren Leben, deren Geschichte und deren Namen vergessen lassen. Den markantesten Ausdruck findet das in den Konzentrationslagern, in denen den Häftlingen eine Kennzahl in den Arm tätowiert wird. Ihre Namen sind nicht mehr von Bedeutung. Diese Wegnahme des Namens, die Wegnahme der eigenen Geschichte und der eigenen Identität, die sich im Namen ausdrückt, haben die Nazis lange vorbereitet. Nach und nach sind jüdische Menschen zu Menschen zweiter Klasse degradiert worden, zu Untermenschen, zu Gesindel, zu Ungeziefer und Ballast, den es zu beseitigen gilt. Mit dieser Sprache haben die Nazis jüdischen Menschen ihre Menschlichkeit nach und nach abgesprochen und sie haben ihnen ihre Namen genommen. Das zeigt sich auch, wenn alle erwachsenen Juden und Jüdinnen der Zeit den Namen „Israel“ oder „Sara“ in ihrem Pass eintragen mussten[1].

Diese kühl anmutende Sprache, diese Erlasse der NS-Zeit führen uns also in erschreckender Art und Weise vor Augen, wie Menschen ihr Mensch-Sein abgesprochen bekommen. Ihre Namen gehen verloren und ihre Identität und Individualität als Person wird aufgehoben. Sie sollen komplett aus der Erinnerung gelöscht werden. Das aber ist dem NS-Regime nicht gelungen. Denn wir haben uns im Gottesdienst an diese Menschen erinnert, ihre Namen und ihre Geschichte ist nicht verloren gegangen.

Und auch Gott erinnert sich an diese Menschen. An jeden Einzelnen von ihnen! Mit dem Lesungstext aus Jesaja 43, 1-7 haben wir uns auch dieser Zusage Gottes versichert: „Gott spricht zum Menschen: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen. […] weil du in meinen Augen so wert geachtet und auch herrlich bist und weil ich dich lieb habe. […]  So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir. Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln, ich will sagen zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde, alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe“.

Was will Gott uns damit sagen? Warum wendet er sich direkt an uns Menschen? Was heißt, „ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“? Für mich bedeutet das erstmal: Gott, weiß wer ich bin, er weiß, wie ich heiße und er ruft mir diesen Namen zu. Und auch wenn die Welt nicht mehr wissen mag, wer ich bin, wenn sie dich aus deinem Haus wirft, dir deine Familie, deine Kinder und deine Freunde nimmt, wenn du alleine bist und niemanden mehr kennst, weiß ich – Gott - trotzdem wer du bist. Du bist ein Mensch, du hast einen Namen und du hast eine Geschichte. Diese Zusage Gottes, dass er weiß, wer ich bin und meinen Namen kennt, geschieht im Jesaja-Text. Der Text ist in Zeiten des Exils entstanden, in dem das jüdische Volk seine Heimat verloren hat und sich in der Fremde befindet. Es weiß vielleicht nicht mehr genau, wer es ist und was es ausmacht. Es erinnert sich kaum an die Zeit davor. Und dann spricht Gott selbst zu diesen Menschen: ich kenne euch, ich weiß, wer ihr seid, erinnert euch daran, dass ich es weiß! Erinnert euch, erinnere dich –„Zachor“[2] sagt Gott in hebräischer Sprache zu seinem Volk – „zachor“ ein maßgeblicher Begriff im jüdischen Denken. Erinnere dich, wer du bist, wer dein Gott ist und erinnere dich vor allem, dass ich deinen Namen kenne und niemals vergessen werde. „Zachor“ – Erinnere dich. Und in dieser Erinnerung, in dieser Nennung des Namens, gibt Gott seinem Volk seine Geschichte zurück. Er nennt ihre Namen und sagt ihnen damit, ich sehe euch, ich kenne euch, ihr seid Menschen, ihr seid individuell und habt eure ganz eigene Geschichte und deswegen tragt ihr diesen Namen.

Und das ist für mich das Entscheidende, warum auch wir in diesem Gottesdienst zusammen gekommen sind. Auch wir sagen uns, einer zum anderen, lasst uns erinnern, lasst uns gedenken derjenigen Menschen, die einst hier unsere Nachbarn und Mitbürger waren. Lasst sie uns nicht vergessen und lasst uns ihre Namen ins Gedächtnis rufen. So wie Gott im Alten Testament – in der jüdischen Tora – seinem Volk in der Fremde, in der Vergessenheit zuruft: ich weiß, wer ihr seid, ich kenne euren Namen, so wollen auch wir nicht vergessen und die Namen derjenigen nennen, die von den Nationalsozialisten ins Vergessen geschickt werden sollten. Und dieses sich-Erinnern, das Gedenken an diese Menschen ist meines Erachtens die größte Form von Widerstand, den wir den Nationalsozialisten heute noch immer entgegensetzen können.

Was Gott uns im Jesaja-Text zusagt, dass er unsere Namen kennt und nicht vergessen wird, das gilt auch für uns als Gemeinschaft. Auch wir leben davon, dass wir dem Leben anderer Menschen, ihrer Geschichte, ihrer Individualität und ihrem Menschsein gedenken. Wenn wir in der Familie zusammen sind und über einen nicht-anwesenden Familienmitglied sprechen, nennen wir seinen Namen und wir erzählen auch von seiner Geschichte. Dieser Mensch lebt dann mitten unter uns in dieser Erinnerungsgemeinschaft und er bekommt seine Individualität, seine Einzigartigkeit deswegen zugesprochen, weil wir seine Geschichte kennen und sie uns erzählen. Und das heißt für mich „Gedenken“, es heißt „zachor“, erinnere dich an einen Menschen, erinnere dich an seinen Namen und an seine Geschichte und gib ihm damit einen Platz in unserer Gemeinschaft. Denn auch wenn dieser Mensch nicht mehr hier sichtbar hier vor uns steht, ist er dennoch da, er hat uns geprägt und auch uns erst zu dem gemacht, was wir selbst sind. Daher lasst immer wieder dieser Menschen gedenken und lasst uns ihre Geschichte ein Beispiel dafür sein, was nie wieder geschehen darf. Wir können die Verbrechen der Nazis nicht ungeschehen machen und wir können diesen 9 Menschen aus Beerfelden ihr Leben nicht zurückgeben. Aber wir können sie in unserer Gemeinschaft bewahren und so vielleicht auch um Vergebung bitten, dass wir nicht immer den Mut haben, einzuschreiten, wenn Unrecht geschieht. Wir kennen ihre Namen, sie hießen: Moritz Haas, Minna Haas, Jonas Marx, Selma Marx, Benjamin Reinheimer, Rosa Reinheimer, Julius Reinheimer, Hilde Reinheimer, Sofie Reinheimer. Erinnern, und nie vergessen!

Mein großer Dank gilt vor allem Pfarrer Roland Bahre, der mit großem Engagement diesen Gottesdienst und das Gedenken mit Kerzen organisiert und begleitet hat.

Theresa Möke, Dekanat Odenwald


[1] Berühmt erforscht ist diese Sprache der „Entmenschlichung“ von Victor Klemperer, LTI – Notizbuch eines Philologen (Lingua Tertii Imperii = Sprache des Dritten Reiches). Er selbst wurde wegen seiner jüdischen Abstammung von den Nazis verfolgt. Sensibel und aufmerksam beobachtet er früh, wie den Juden in der Sprache der Nationalsozialisten mehr und mehr das „Mensch-Sein“ abgesprochen wird.

[2] Hebräische Wurzel „zahar“. Zentraler Begriff des jüdischen Denkens, das oftmals als das Erinnern an die Gemeinschaft mit Gott auftaucht. Besonders oft findet sich „zahar“ in der Tora im Kontext der Exodus-Erzählung oder wird im Zusammenhang mit den Genealogien gebraucht.


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