Menu
Menü
X

... der sehe, was die Sonne predigt

Der Gammelsbacher Kirchenraum ist für mich ein Ort unmittelbarer Berührung mit dem Göttlichen. Dieses Licht, diese Fenster! Ich kann mir niemanden vorstellen, der nicht fasziniert wäre, wenn er diesen Raum kennenlernt, gebannt einfach nur schaut – und dabei empfindet.

Geschaffen sind diese Fenster von Menschenhand, den Händen des Künstlers Bruno Müller-Linow (1909-1997). Aber sie eröffnen, wie Fenster das eben tun, den Blick hinaus, hinauf, hinüber; zu Gott.

Bezeichnend ist dabei, dass wir ja nicht hinaussehen. Wir schauen nicht wie durch andere Fenster auf die Straße oder in den Garten, sondern wir sehen, vordergründig gleichsam, Motive und Symbole, die uns von Gott erzählen („im Licht der biblischen Botschaft“); wir sehen auch abstrakte Gestaltungen, die aber allemal durch ihre Farbe und Formen ebenfalls eine beredete Sprache sprechen, wenn auch nicht unmittelbar in Worte zu übersetzen. Und wir sehen das Licht auf ganz besondere Weise. „In Deinem Licht sehen wir das Licht“, sagt der Psalmbeter. Wir sehen es nicht nur in den Fenstern, sondern es fällt durch diese hinein und erleuchtet so ganz eigen-artig den Kirchenraum.

Als ich vor einigen Jahren das erste Mal diesen Raum betrat, war es für mich weit mehr als das Empfinden, dass ich hier in einer schönen, modernen Kirche stehe. Ein paar Jahre später habe ich für die Predigt, die ich anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Kirche halten durfte, das Psalmwort gewählt: „Herr, ich habe lieb die Stätte Deines Hauses und den Ort, da Deine Ehre wohnt.“ Grundgedanke war: Es sind Sonnenpredigten, die wir hier sehen. Denn wie ein Pfarrer die Bibel auslegt, wie er die Worte verdeutlicht, ihren Sinn, ihre Hintergründe, so legt hier die Sonne in den Fenstern die Botschaft aus, die der Künstler darin wiedergibt. Sie betont hier etwas, hebt es hervor, während vielleicht im selben Augen-Blick etwas anderes im Dunkeln bleibt, also verborgen. Das aber sehe ich dann ein andermal umso deutlicher.

 

Der Künstler: Bruno Müller-Linow

Bruno Müller-Linow, der sich als Maler bereits einen Namen gemacht hatte und als Professor am Fachbereich Architektur der Technischen Hochschule Darmstadt lehrte, erhielt Anfang der Sechzigerjahre den Auftrag, für die neuentstehende evangelische Kirche in Gammelsbach die Fenster zu gestalten. Wie der Kontakt genau zustande kam, ist meines Wissens nicht mehr festzustellen. Für den Maler Müller-Linow war Glasgestaltung damals jedenfalls noch recht neues Gebiet. In den folgenden Jahren schuf er noch für etliche weitere Kirchen Fenster, oftmals auch ganz anders als hier: nicht viele Einzelfenster, sondern große zusammenhängende, wie etwa in der Petruskirche in Darmstadt-Bessungen, in der Johanneskirche in Bad Nauheim oder in der katholischen Kirche in Bensheim-Auerbach. Auch für Gotteshäuser in Gernsheim-Allmendfeld und sogar in Norditalien entwarf und gestaltete er Fenster.

Wer verschiedene Glasarbeiten Müller-Linows kennt, bemerkt, dass manche Motive wiederkehren; sie scheinen zu den bevorzugten Bildern und Symbolen des Künstlers zu gehören: der Hahn Petri zum Beispiel, das Feuer, die Taube Noahs mit dem Ölzweig im Schnabel, der Fisch, welcher Christus symbolisiert, im leuchtenden Rot, das in der Kunst auch die Farbe Christi ist, und noch einige weitere. Insbesondere in Allmendfeld weisen die Fenster eine deutlich sichtbare Verwandtschaft mit denen in Gammelsbach auf.

 

Wer Augen hat zu sehen

Wer Augen hat zu sehen, der sehe, was die Sonne predigt. So habe ich das im Hinblick auf die Sonnenpredigten in Abwandlung der berühmten Aussage Jesu: „Wer Ohren hat zu hören, der höre“, formuliert.

Betrachten wir zum Beispiel die Ähren in einem der Fenster. Wie in einem Brennglas sehe ich in diesem Fensterglas das Getreide auf den Feldern draußen gebündelt. Golden leuchtet das Korn, das weist auf seine Reife hin; es ist Erntezeit. Und wer gut geerntet hat, kann nicht anders als dankbar zu sein: Erntedank. Wir verdanken ja nicht uns selbst, dass wir genug zum Leben haben. Freilich, ohne die menschliche Arbeit geht es nicht. Alles beginnt mit der Aussaat (auch dem Sämann ist ein Fenster gewidmet!), und auch das Ernten ist viel Arbeit. Aber Wachsen und Gedeihen sind Gottes Gabe. Wer genau hinsieht, entdeckt auch: Es sind sieben Halme, die hier zu einer Garbe gebunden sind. Sieben, das ist die biblische Zahl der Vollständigkeit. Ich lese darin also auch: Es reicht für alle, lasst uns getrost teilen.

Was mir an diesen Fenstern ebenfalls so gut gefällt, ist die Weite mancher Symbole. Neben der unmittelbaren Aussage gibt es weitere Bedeutungsmöglichkeiten, es entsteht ein Raum drumrum. So kann ich das Feuer hinter dem Altar als den Brennenden Dornbusch sehen, in dem Gott sich Mose offenbart. Aber wenn ich an die Bibel und das Feuer denke, fällt mir auch das Pfingstwunder ein („Und es erschienen ihnen Zungen, wie von Feuer...) und die Geschichte von den Emmaus-Jüngern: Nachdem sie im Gespräch mit dem Fremden auf dem Weg in ihm zunächst nicht den auferstandenen Jesus erkannt hatten, bemerken sie im Nachhinein: „Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns auf dem Weg redete?“

Es gibt auch mehrere Engel in dieser wunderbaren Kirchenwand. Viele Menschen erinnern sie an die stete Nähe Gottes, sind sie Boten und Begleiter auf allen Wegen, die ihnen sagen: „Fürchtet euch nicht!“

 

Jedes Wort ein Korn

Vom Sämann habe ich schon geschrieben. Er spricht ja eigentlich eine klare Sprache. Aber Jesus erzählt hier ein Gleichnis. Nicht um das tatsächliche Samenkorn geht es, sondern um das Wort Gottes. „Der Sämann sät das Wort“, erklärt Jesus seinen Jüngern, wenn er selbst für sie das Gleichnis auslegt. Gerne denke ich diesen Gedanken weiter: Jedes Wort ein Korn, was für ein schönes Bild. Wenn ich die Bibel zur Hand nehme, dann habe ich demnach einen ganzen Sack voller guter, wertvoller, ja erlesener Samenkörner vor mir. Wenn ich lese, diese Worte auflese, dann säe ich also in mir. Und hoffe, dass manches davon in meinem Inneren auf einen guten, fruchtbaren Boden fällt, sodass die Saat in Kopf und Herz und Seele aufgehen kann. Freilich, ich schrieb es schon: Wachsen und Gedeihen habe auch hier nicht ich in der Hand, sondern Gott. Und es mag sein, dass ich keinen unmittelbaren Ertrag habe; aber vielleicht zu einem ganz anderen Zeitpunkt, wenn ich nicht damit rechne. Und kann dann ernten: Trost, Hoffnung, Weisung, Zuversicht.

 

Aus dem Stall und über das Kreuz hinaus

Und natürlich: die Krippe. Sie leuchtet bedeutungsvoll im Zentrum des Fensters, welches Weihnachten gewidmet ist. Im Hintergrund erkenne ich einen Esel, das ärmliche Dach des Stalles in Bethlehem. Fast alles, was zu einer Krippe gehört, ist da. Aber dann scheint ja doch das wichtigste zu fehlen: Jesus. Ich stutze einen Augenblick lang, wundere mich. Das kann indes kein Zufall sein, das muss seinen Grund haben. Und dann fallen mir plötzlich gleich drei Bedeutungen dieses Bildes ein. Die Krippe ist leer – das erinnert mich daran, dass das wunderbare Geschehen von Bethlehem ja schon rund zweitausend Jahre alt ist. Jesus ist doch längst da. Zugleich sagt die leere Krippe aber auch: Alles harrt der Wiederkehr Christi in unsere an so vielen Stellen erlösungsbedürftige Welt. Und nicht zuletzt: Leer ist auch die Krippe in mir. Der Mystiker Angelus Silesius (1624-1677) sagt: „Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir: du bliebest doch in alle Ewigkeit verloren.“

Wer ganz genau hinsieht, erkennt im Hintergrund das Fenster im Fenster: Im Stallfenster ist ein grünes Kreuz zu sehen. Schon am Ort seiner Geburt ist der Lebensweg Jesu vorgezeichnet. Was für ein Bild: Das Leben, das in der Armut in der Krippe begann, ging, im wahrsten Sinn des Wortes, über das Kreuz im Hintergrund hinaus und weiter über zweitausend Jahre bis hierher, zu uns. Das alles ist dargestellt in diesem Fenster.

Bernhard Bergmann


top