Angedacht: Trost und Schweigen - Gedanken zum Kreuz an der Sternenkinder-Grabstätte
Die Vorstellung, dass das Leben des Kindes, das ich auf dem Arm getragen habe, dessen Herzschlag ich im Ultraschall gesehen und gehört habe, dessen Atem ich auf meinem Hals spüre – dass dieses Leben endet, ist auch für mich unerträglich. Und auch wenn unsere Kinder größer und älter sind, vielleicht auch schon erwachsen und aus dem Haus – die Liebe der Eltern bleibt bestehen. Wenn wir auch irgendwann nicht mehr „sorgeberechtigt“ sind, werden in Wahrheit die Sorgen der Eltern nicht weniger und unser Herz bleibt immer ein Stückweit bei unseren Kindern. Ich hätte nicht für möglich gehalten, was ich direkt nach der Geburt meines ersten Kindes in einer selten erlebten Bedingungslosigkeit und einleuchtender Klarheit gespürt habe: Eltern würden für ihre Kinder alles, alles geben, damit es ihnen gut geht. Wirklich alles!
Wann genau entsteht das Leben im Leib der Mutter, wann wird ein Kind zu einem Kind, wann ist der Moment, an dem Eltern zu Eltern werden: Diese Frage ist, finde ich, sehr schwer zu beantworten und wird sehr unterschiedlich diskutiert. Manche sagen, erst wenn das Kind selbständig lebt, also nach der Geburt, nach dem ersten Atemzug. Manche sagen, direkt in dem Moment, in dem die beiden Zellen sich im Körper der Frau treffen.
Für mich begann die Zeit des Vaterseins in dem Moment, in dem ich innerlich mit dem werdenden Kind eine Beziehung aufgebaut habe. Das kann früher oder später sein: Bei Müttern, die ihr Kind unter ihrem Herzen tragen und im Laufe der Schwangerschaft auch die Bewegungen und ein Stückweit bereits die Persönlichkeit des Kinder spüren, sicherlich früher als bei den Vätern. Und doch bleibe ich dabei: Es geht beim Elternwerden nicht um den Traum einer Familie, nicht um eine Idee oder eine abstrakte Vorstellung, sondern es geht um Menschen, die eine wirkliche und unvergleichliche Beziehung eingehen.
Deshalb nehmen Menschen, die ihr Kind während der Schwangerschaft, während oder kurz nach der Geburt verlieren – also ein „Sternenkind“ - , auch nicht nur Abschied von einer abstrakten „Idee“ von einem Kind, der Sehnsucht, der sich mit dem Vater- oder Muttersein verbindet. Der Abschied sitzt wesentlich tiefer: Es ist der Abschied von einem Menschen, den wir nicht richtig kennen lernen durften, mit eigener Persönlichkeit und eigenem Leben. Es ist ein Abschied von einem Menschen, der von niemandem gekannt wurde und der oft sogar namenlos vergeht.
Dieser Schmerz geht sehr tief in unsere eigene Persönlichkeit, in unser eigenes Wesen als Mensch. Die Trauer um den Tod eines Sternenkindes verändert das Leben und den Blick auf die Welt der hinterbliebenen Familie: Der Eltern, der Geschwisterkinder und alle, die zum Familiensystem gehören oder noch gehören werden. Sternenkinder hinterlassen in der kurzen Zeit in unserer Welt oft tiefe Spuren.
Zu dieser Trauer gehört das Schweigen. Was ich nicht aushalte, dafür gibt es keine Worte. Das Sternenkind hinterlässt eine Leere, die nicht aufgefüllt werden kann. Die Trauer um ein Sternenkind ist dabei ein Prozess, ein Weg, eine Entwicklung – und doch endet sie nie. Irgendwann merke ich, wie ich bereit bin, darüber zu reden, und vielleicht werden Worte in mein Herz gelegt, die meiner Trauer einen Rahmen, einen Halt geben. Vielleicht ein Wort aus Psalm 139 („Du bildest den Menschen im Mutterleibe - deine Augen sahen mich, da ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war“). Oder dem Hiob-Buch („Der Herr gibt, der Herr nimmt – der Name des Herrn sei gelobt“). Die Bibel ist voll von Worten, die die Tiefe dieser Trauer ergründen.
Ich finde, das Kreuz auf dem Grabstein unseres neuen Sternenkinder-Grabmales in Beerfelden, gibt dieser besonderen Art der Trauer einen ganz besonderen Ausdruck: In der Mitte die Leere, das Schweigen, das Unaussprechliche. Um diese Leere herum einzelne ummalende Pinselstriche, die wie Wortfragmente scheinbar zufällig diese Leere festhalten. Und plötzlich erkenne ich, wenn ich meinen Blick verändere: Diese Fragmente, sie waren kein Zufall – ich sehe das Kreuz: Ein Zeichen der Hoffnung und die plötzliche Klarheit in mir: Gott, er war die ganze Zeit da und hielt meine Trauer fest. Wie das leere Grab am Ostersonntag wird die Bedeutung des Kreuzes erst sichtbar durch die Leere im Zentrum. Ohne diese Leere, ohne diese Hoffnung, würde das Kreuz nichts sein.
In der Trauer Sinn zu sehen, ein Prozess des eigenen Werdens und der menschlichen Schönheit: Dafür steht für mich dieses Kreuz auf dem Grabstein des Sternenkinder-Steins. Die Hoffnung, die sich in diesem Kreuz zeigt in der Verbindung von Schweigen und Worten, in der sinnlichen Balance gehaltener Leere: Ein besseres Zeichen für christliche Hoffnung kann es für mich nicht geben. Ich selbst trage dieses Kreuz seit mehreren Jahrzehnten Tag und Nacht um meinen Hals.
Und oben, über dem Grabstein, der Regenbogen. Und mit ihm die Hoffnung: „Nimmermehr soll es eine Sintflut geben“. Ein Zeichen des Bundes Gottes mit den Menschen. Ein Versprechen, das Gott dir und mir gibt.
Bald feiern wir Weihnachten und feiern die Geburt eines besonderen Kindes in der Welt. Dieses Kind im Stall von Bethlehem, es ist auch für die Kinder und deren Familien geboren, die das Licht dieser Welt nicht erblicken. Es ist ein Kind, das diese Welt, ihre Trauer und ihren Schmerz, erlöst und frei macht. Gott selbst, der Mensch wird und damit Einzug hält in dein Leben. Ein Gott des Lebens, ein Gott der Freude, ein Gott des unendlichen Trostes.
Pfarrer Roland Bahre
