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„Alles hat seine Zeit“ – „Alles zu seiner Zeit“

Um die Zeit „in den Griff“ zu bekommen, hat der Mensch immer wieder ausgefeiltere Systeme für die Zeitmessung erfunden: Waren es zunächst Sonnen-, Wasser- und Wanduhren, die Stunden, Minuten und Sekunden anzeigten, so sind es heute Computerprogramme (Apps), die messen, wie lange man schläft, isst, Sport treibt, im Internet bleibt.

Beim Versuch jedoch, das Wesen der Zeit zu erfassen, ist der Mensch deutlich an seine Grenzen gestoßen.

„Die Zeit kommt aus der Zukunft, die nicht existiert, in die Gegenwart, die keine Dauer hat, und geht in die Vergangenheit, die aufgehört hat zu bestehen.“ So philosophierte Augustinus, einer von vier lateinischen Kirchenvätern der Spät-antike, über die Herkunft der Zeit.

Im Gegensatz zu Augustinus war Immanuel Kant der Auffassung, dass „Zeit“ nichts vom Menschen Unabhängiges ist, was lediglich „draußen in der Welt“ existiert. Seiner Meinung nach ist die Kategorie „Zeit“ im Menschen selbst angelegt, um die Welt besser verstehen zu können. Diese 1781 geäußerte Ansicht des wohl bedeutendsten deutschen Philosophen vertreten vom Ansatz her heute auch namhafte Neurowissenschaftler.   

Wie wir an uns selbst erfahren, nehmen wir „Zeit“ nicht als das wahr, was sie eigentlich ist: etwas Fließendes, das beständig nachströmt. Wir empfinden Zeit vielmehr als etwas, das sich aufbraucht, und zwar je nach erlebter Situation entweder schneller oder langsamer. Analog zu den als Phasen erfahrbaren Naturphänomenen wie Tag und Nacht, Jahreszeit, Ebbe und Flut, Sonnenbahn und Mondzyklen, wird „Zeit“ vom Menschen allgemein auch eher abschnittsweise erlebt, jeweils gebunden an bestimmte Ereignisse, Vorgänge, Erfahrungen. Aneinandergereiht fügen sich die Abschnitte in der Vorstellung jedes Einzelnen schließlich zu einem persönlichen Lebensweg mit unterschiedlich langen und inhaltlich verschiedenen „Etappen“ zusammen.

Die Redeweise „Alles hat seine Zeit“ verweist deutlich auf ein solches Zeiterleben des Menschen. Im Predigerbuch „Kohelet“, welches König Salomo als Verfasser zugeschrieben wird (Entstehungszeit: 4. oder 3. vorchristliches Jahrhundert), ist Gleiches zu lesen: „Ein jegliches hat seine Zeit und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde“ (Prediger Salomo 3,1).  

Im Anschluss an diese Bibelstelle heißt es:

„Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu Herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.“                            (Prediger Salomo, 3,2 bis 3,8)

Was der Prediger damit verdeutlicht, ist das menschliche Leben in allen seinen Facetten: Sein Anfang und Ende, seine Schaffens- und Zerstörungskraft, seine Freuden und Leiden: Dies alles hat im menschlichen Leben seine Zeit.

So gesehen ist die Zeit der Lehrmeister des Lebens. Und in seinen Lektionen unerbittlich. Denn die allgemeine Erfahrung zeigt, dass das, was geschieht, wenn die Zeit „reif“ ist, sich in letzter Konsequenz nicht vom Menschen bestimmen lässt - trotz aller seiner Anstrengungen und sicherlich auch Erfolge, Lebensumstände, Lebensweise und menschliches Leben selbst zu verbessern.

Für sich betrachtet ist das durchaus Anlass für Resignation und Lebensangst, wäre da nicht der Glaube an Gott und seine Herrschaft über die Zeit, der dem Menschen Lebensmut verleiht: „Ich aber, HERR, hoffe auf dich und spreche: Du bist mein Gott! Meine Zeit steht in deinen Händen.“ (Psalm 31,15-16)

Während die Redeweise „Alles hat seine Zeit“ eine Feststellung vermittelt, enthält die Redewendung „Alles zu seiner Zeit“ einen Appell zur besonnenen, der jeweiligen (Lebens-)Zeit angemessenen Handlungsweise. Notwendige Voraussetzung hierfür ist Achtsamkeit, um „die Zeichen der Zeit“ richtig zu erkennen und der Zeit dadurch nicht blindlings ausgesetzt zu sein.

Trotz oder gerade wegen seiner Erkenntnis, dass der Mensch über das, was ihm widerfährt, nicht verfügen kann, rät Salomo im Buch „Kohelet“ zu Lebenslust und Lebensfreude als Grundhaltung: "Da merkte ich, dass es …nichts Besseres gibt, als fröhlich zu sein und es gut zu haben im Leben" (3,12).

Dabei ruft er aber zur Ehrfurcht gegenüber Gott auf, nicht etwa zu zügellosem Genuss

Hans-Peter Fink


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